Margot Friedländer auf dem VOGUE-Cover: “Schaut nicht auf das, was euch trennt. Schaut auf das, was euch verbindet” (2024)

Margot Friedländer ist auf dem Cover der Juli/August-Ausgabe von VOGUE Germany. Begegnung mit einer, die das Schlimmste erlebt hat und nicht müde wird, für das Miteinander zu plädieren.

Die Sonne scheint auf den Balkon von Margot Friedländer. Vor ihr liegt Berlin und der Spielplatz einer Kita. Da ist ein Kirschbaum, darunter steht eine knallrote Kunststoffrutsche. Kinder klettern sie hinauf, nacheinander stürzen sie sich hinunter. Margot Friedländer lässt sich in ihren Korbstuhl fallen. "Die Kinderchen", sagt sie. "So schön." Sie blickt über die Dächer der Stadt. Da hinten, keine drei Kilometer Luftlinie, liegt der Anhalter Bahnhof am Askanischen Platz. Am 16. Juni 1944, erzählt Margot Friedländer, war es ein wolkenverhangener Tag. Sie wurde von dort aus mit dem Zug in das KZ Theresienstadt deportiert. "So viele Menschen ermordet", sagt sie. "Alte Damen, die um ein Stückchen Brot gebeten haben. Ich werde das nie vergessen." Sie faltet die Hände. Die Ärmel ihrer bunt gemusterten Bluse hat sie hochgekrempelt. Die Fältchen im Gesicht werfen kleine Schatten. Jeder Schatten eine Geschichte.

Wir haben sie viermal getroffen. Das erste Mal im Januar 2024 zum Interview anlässlich des Tages des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, das zweite und dritte Treffen folgten drei Monate später für die Anprobe für das Covershooting und das Shooting selbst. Das letzte Treffen mit einem erneuten Interview findet Ende April statt. Von Mal zu Mal scheint Margot Friedländer energiegeladener zu werden. Als würde ihr Geist einer umgekehrten Zeitrechnung folgen. Jedes Wort, das sie sagt, ist voller positiver Kraft. Eine Frau, der das Schlimmste widerfahren ist, spricht, ohne verbittert zu sein. Wie ist das möglich?

Margot Friedländer in einem floralen Ensemble von LORO PIANA. Pullover von THE DECK. Seidentuch und Ringe, privat.

Foto: MARK PECKMEZIAN. Styling: KATE PHELAN. Haare und Make-up: SUSANNA JONAS.

Margot Friedländer über das aktuelle politische Klima: "Ich bin entsetzt"

Januar. Bis zuletzt ist nicht klar, ob der Termin stattfinden kann. Eine Grippe hatte sie erwischt, zwei Wochen lag sie im Bett. Interviews mit TV-Sendern und Journalist:innen, alles wurde abgesagt. Nur langsam kommt sie wieder zu Kräften. In wenigen Wochen jährt sich der Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust. Am 27. Januar 1945 befreiten sowjetische Soldaten das Vernichtungslager Auschwitz. Dies ist der Anlass für unser erstes Treffen, es findet in ihrem Appartement in einer Seniorenresidenz statt. Wir klopfen. Die weiße Wohnungstür geht auf, und da steht sie: eine zierliche Frau mit silbergrauem Haar in einem wadenlangen Kleid, um den Hals eine Bernsteinkette. Margot Friedländer reicht die Hand. Ihr Händedruck ist fest und zart zugleich. Sie sagt, noch immer erhole sie sich von den Strapazen der Grippe, die Glieder schmerzten, die Stimme sei auch noch nicht ganz zurück. Aber solange sie kann, will sie sprechen. "Setzen Sie sich", sagt sie. Wir nehmen auf einem beigen Samtsofa Platz. Natürlich bekäme sie mit, was in unserer Gesellschaft passiert, erzählt sie. Dass sich immer mehr junge Menschen von den rechten Parolen der AfD angezogen fühlten, dass sich antisemitische Übergriffe häuften und dass Politiker:innen auf offener Straße verprügelt würden. Zwölf Jahre war sie alt, als Hitler an die Macht kam. Sie weiß noch genau, wie es damals anfing. Deswegen will sie sprechen. Auch im Namen der Opfer, die nicht mehr sprechen können. Sie sagt: "Ich bin entsetzt."

Seit Jahren geht sie in Schulen. Sie spricht mit Kindern und Jugendlichen, über ihre Geschichte und über Antisemitismus. Aus hundert Schulbesuchen wurden Tausende. Seit dem Angriff der Hamas am 7. Oktober auf Israel und dem darauffolgenden Krieg in Gaza fragen immer mehr Jugendliche: Bist du für Israel? Bist du für Palästina? Wer ist gut? Wer ist böse? Margot Friedländer will von dem Kategorisieren und dem Spalten nichts wissen. Sie sagt: "Schaut nicht auf das, was euch trennt. Schaut auf das, was euch verbindet. Seid Menschen. Seid vernünftig." Vor wenigen Wochen erst richtete sie ihren Appell auf der Bühne von "Ein Herz für Kinder", Bundeskanzler Olaf Scholz überreichte ihr für ihr Engagement das "Goldene Herz". Sie sagt, die Leute hören ihr zu, und sie stellen Fragen. Wenn sie vor den Kindern sitzt, wenn sie interviewt wird, wenn Journalist:innen TikTok-Videos mit ihr machen. "Das macht doch Hoffnung. Nicht?", fragt sie.

Zwischen Überleben und Ehrendoktorwürde: Margot Friedländers Weg durch die Geschichte

Sie ist eine der letzten Überlebenden des Holocaust. Eine der letzten Stimmen, die die Verbrechen der Nazizeit am eigenen Leib erfahren hat. Am 5. November 1921 kam Anni Margot Bendheim als deutsche Jüdin in Berlin zur Welt. Ihre Familie wurde in Auschwitz ermordet. Sie selbst wurde ins KZ Theresienstadt deportiert. Dort traf sie einen alten Bekannten, Adolf Friedländer, den sie noch vom Theater kannte. Sie heirateten kurz nach der Befreiung des KZ noch in Theresienstadt und gingen anschließend gemeinsam nach New York. Als ihr Mann 1997 verstarb, wuchs der Wunsch, zurückzukehren: "Ich war noch nicht fertig mit Berlin." Mit 88 Jahren zog sie zurück. Ein neues Leben begann; ein Leben, das sie dem Nichtvergessen widmet. Sie ist mehr als eine Zeitzeugin, sie ist eine Art Medium, sie verbindet die Schrecken der Vergangenheit mit der Zukunft. Man fühlt mit ihr, wenn sie spricht, und genau das ist es, was sie will: ihre Geschichte für die nachfolgende Generation spürbar machen. Aber wie kann jemand, der das erlebt hat, was Margot Friedländer erlebt hat, so viel Hoffnung in die Menschen haben? Woher nimmt sie ihre Lebenskraft? Sie sagt, sie denke an ihre Kindheit, dann an die schönen Zeiten, an die Wochenenden am Scharmützelsee, an den Swing im Friedrichstadt-Palast. Ihre Familie war unpolitisch. "Wir hofften, dass Hitler wieder verschwindet", sagt sie. Dass alles nicht so schlimm wird. Und sie denkt an ihre Oma Adele. Eine kleine Frau mit kräftigen Armen und fein zusammengesteckten Haaren. Sie schmierte der jungen Margot immer ein Stückchen Brot mit Butter und schnitt ihr die Kruste ab. Oma Adele trug sie stundenlang durch die Straßen, als sie an schwerem Keuchhusten litt, bis sie auf ihrem Arm einschlief. Es sind liebevolle Momente ihrer Kindheit, die sie heute durch die Zeit tragen. Sie sagt: "Omi Adele. Sie hat mich geliebt, und ich hab’ sie geliebt. Sie nannte mich immer 'Mein Mäuschen'."

Margot Friedländer in einem Vintage-Ensemble aus ihrem Kleiderschrank. Schmuck, privat.

Foto: MARK PECKMEZIAN. Styling: KATE PHELAN. Haare und Make-up: SUSANNA JONAS.

Zweites Treffen. Es ist inzwischen April, heute probieren wir die Outfits für unseren Covershoot. Margot Friedländer öffnet wieder die Tür: Die leuchtend gelb gemusterte Seidenbluse hat sie in den schmalen Wollrock gesteckt, die Haare noch schnell gewaschen, jetzt sei sie bereit für den Tag. Sie zeigt uns ihre Garderobe für das bevorstehende Fotoshooting im Botanischen Garten der Freien Universität Berlin. An der erhielt sie zwei Jahre zuvor die Ehrendoktorwürde des Fachbereichs Geschichts- und Kulturwissenschaften für ihre Verdienste als Zeitzeugin: Dr. honoris causa Margot Friedländer. Aber erst mal solle man sich doch bitte aufs Sofa setzen, sagt sie und erzählt vom letzten Abend: Gestern war sie mit einem guten Freund in der Oper, sie haben sich gemeinsam die Neuinszenierung von Mozarts "Le Nozze di Figaro", Figaros Hochzeit, angesehen. Diese Musik, sagt sie, wunderbar, da brauche sie ihr Hörgerät gar nicht, jeder Ton eine Freude. Vom Sofa aus hat man einen guten Blick auf die Erinnerungsstücke in ihrer Wohnung. Da sind Bücher aus ihrer Zeit in New York, gerahmte Fotos ihrer Mutter und ihres Bruders Ralph. Fotos mit Angela Merkel, unterzeichnet mit den besten Wünschen, Fotos mit dem amtierenden Bundeskanzler Olaf Scholz, dazwischen Dutzende Plüschtiere, die Schulklassen ihr als Dankeschön für ihre Arbeit als Zeitzeugin schenkten. Es gibt kaum eine freie Fläche. Da ist außerdem das Bundesverdienstkreuz erster Klasse, ein kleines rot-goldenes Kreuz am Stoffband, es liegt in einem dunkelblauen Etui auf dem Bücherregal. Da ist der "Talisman" der Deutschlandstiftung Integration, den ihr der ehemalige Bundespräsident Christian Wulff überreicht hat. Was ihr das alles bedeute? "Ich freue mich. Aber am schönsten ist doch die Anerkennung der Schüler. Nicht?"

"Ich hatte große Pläne" – über ein Leben, in dem alles anders kam

Margot Friedländer lebt in einer Seniorenresidenz im Berliner Westen. Im Erdgeschoss steht ein Klavier, auf dem nie Staub liegt, und es gibt ein Restaurant. Jeden Abend wird dort ein Drei-Gänge-Menü zubereitet. Margot Friedländer sagt, sie geht nur selten ins Restaurant. Sie kocht sich ihr Essen am liebsten selbst. Wenn sie spätabends von einem Termin kommt und noch Hunger hat, dann geht sie in ihre Küche und macht sich einfach ein Spiegelei. Jetzt steht sie in einem kleinen Zimmerchen, vielleicht zwei Quadratmeter groß. Es ist eine Art begehbarer Kleiderschrank und bis unter die Decke mit Kleidern gefüllt. Margot Friedländer stellt sich auf die Zehenspitzen, um einen der Kleiderbügel zu erreichen. Auf zwei Kleiderständern hängen Jacken, Kostüme, Seidenblusen. "So viel Zeuch", sagt sie und geht die Kleidungsstücke durch. Sie hat ein Auge für das Schöne. Wenn jemand in ihrer Gegenwart etwas trägt, das gut geschnitten ist, macht sie ein Kompliment. Als junge Frau träumte sie davon, Schneiderin und Designerin zu werden. 1936 schrieb sie sich an einer Berliner Kunstgewerbeschule ein und lernte dort Mode- und Reklamezeichnen. Mit ihrem Bruder saß sie an den Wochenenden im Café Wien am Kurfürstendamm und beobachtete die mondän gekleideten Frauen und Männer. "Ich wollte selbst Kleider entwerfen", sagt sie. "Ich hatte große Pläne." Sie zieht ein Ensemble von der Kleiderstange: eine leichte Wolljacke mit Blumenmuster in Rot und Rosa, mit weißem Besatz und goldenen Knöpfen. Darunter eine weiße Hose mit hohem Bund. Das kaufte sie sich für ihre Hochzeitsreise nach Europa, die sie 1958 nachholten. Mit ihrem Mann fuhr sie mit dem Schiff nach Capri. Das Outfit hing in einer Boutique in der Nähe des Strands, sagt sie. So eine schöne Erinnerung. So wie die an ihren Mann. Adolf Friedländer war der Leiter des Verwaltungsbüros des Kulturbundes in Berlin, in dem sie als junge Frau arbeitete. Zuerst mochte sie ihn nicht. Ein elf Jahre älterer Mann mit strengem Blick, der immer aufs Geld guckte. Seine Anzüge hatten die schärfsten Bügelfalten, die sie je gesehen hatte. Aber als beide später in Theresienstadt inhaftiert waren, wurden sie ein Paar. Kurz nach der Befreiung heirateten sie nach jüdischem Ritus. Aus einem weißen Stück Stoff mit orangefarbenen Pünktchen nähte sie sich ihr Hochzeitskleid. Sie sagt: "Aus Adolf Friedländer wurde Adolf, und aus Margot Bendheim wurde Margot. Wir waren froh, dass wir uns hatten."

Zu Besuch bei Margot Friedländer

Wir machen eine Pause. Vom Wohnzimmer aus geht es auf den Balkon. Margot Friedländer holt eine Box mit Schokolade, die sie zum Dank von einer Schulklasse bekommen hat, und verteilt sie an ihre Gäste. Es gibt Schokolade mit Nugat, Nüssen und Krokant, man solle nur zugreifen, sagt sie und nimmt sich ihre Lieblingssorte Krokant. "Schön warm", sagt sie und setzt sich in die Sonne in einen Korbstuhl. Ihr sei in letzter Zeit immer so kalt gewesen, sagt sie und hält ihre rechte Hand schützend vor die Augen. Ein Gast zieht zwei Sonnenbrillen aus der Tasche. Eine nachtschwarze Ray-Ban und ein exzentrisches, glitzerndes Modell von Miu Miu – eine mit Kristallen umrandete Cat-Eye-Brille, wie sie Hollywood-Diven trugen. Margot Friedländer zögert nicht. "Die", sagt sie, setzt das funkelnde Miu-Miu-Modell auf und lässt die Gäst:innen reden. Man merkt ihr ein wenig die Anstrengung an. Seit vielen Jahren trägt sie ein Hörgerät, das mal besser und mal schlechter funktioniert. Je mehr Menschen sie um sich herum hat und je lauter die Geräuschkulisse ist, desto schwieriger ist es für sie, den Gesprächen zu folgen. Sie zoomt dann einfach raus. So wie jetzt. Ihre Gäst:innen plaudern irgendwann übers Spargelkochen, Margot Friedländer schreckt auf: "Spargel?", fragt sie erfreut und setzt die Miu-Miu-Brille ab. Sie ist wieder da.

Sie mag Gesellschaft und ist gern von Menschen umgeben. So wie kürzlich, als sie zu der Party eines Bundestagsabgeordneten im Soho House eingeladen war und so lange feierte, bis das Licht wieder anging. Aber natürlich gibt es auch Momente, in denen sie allein ist. Wie geht sie damit um, wenn niemand um sie herum ist? Gibt es Gedanken, die ihr nachts keine Ruhe lassen? Wovon träumt sie? Sie erzählt, letzte Nacht habe sie schlecht geschlafen. Stundenlang lag sie wach, während ihre Katze neben ihr schnarchte. Sie dachte über dies und das nach, Belangloses, bis die Vögel wieder zwitscherten. Wenn man nicht schlafen kann, sagt sie, dann könne man nicht viel tun. Sie dreht sich dann einfach um. Erst nach links, dann nach rechts. Man hört auch ein wenig die konservierte Sprache der Dreißiger- und Vierzigerjahre, als stecken die Worte in einer Zeitkapsel.

64 Jahre lang lebte sie in Amerika, immer wieder mischen sich einzelne englische Worte in ihre Sätze. Englisch sprechen fällt ihr allerdings nicht auf Anhieb leicht, erst nach einer Weile antwortet sie der britischen Stylistin auf Englisch. Trotz der langen Zeit in New York habe sie sich nie als Amerikanerin gefühlt, sagt sie. Hat sie denn nie Heimweh nach NewYork? "Heimweh?", fragt sie. "Ich bin Deutsche. Ich bin hier geboren." Sie zeigt mit ihrem Finger auf den Boden. Ihre Stimme ist klar, geradezu vehement, als hätte man ihr mit dieser Frage das Deutschsein abgesprochen. Was fühlt sie, wenn sie heute durch die Straßen Berlins fährt? Sie überlegt. Morgen, auf dem Weg zum Shooting, sagt sie, wollen wir durch die Uhlandstraße fahren. Ein Ort, der wie kaum ein anderer in Berlin für die Schrecken von damals steht und mit dem sie gleichzeitig so viele positive Erinnerungen verbindet.

Margot Friedländer in einem floralen Ensemble von LORO PIANA. Pullover von THE DECK. Seidentuch und Ringe, privat.

Foto: MARK PECKMEZIAN. Styling: KATE PHELAN. Haare und Make-up: SUSANNA JONAS.

Foto: MARK PECKMEZIAN. Styling: KATE PHELAN. Haare und Make-up: SUSANNA JONAS.

Foto: MARK PECKMEZIAN. Styling: KATE PHELAN. Haare und Make-up: SUSANNA JONAS.

Foto: MARK PECKMEZIAN. Styling: KATE PHELAN. Haare und Make-up: SUSANNA JONAS.

Friedländers Berlin: Trotz Schrecken ein vertrautes Zuhause

Drittes Treffen. Der Tag nach der Anprobe. Das Taxi wartet bereits, es ist über Nacht kühl geworden. Margot Friedländer steht vor dem Spiegel, gleich ist sie so weit, sagt sie und packt einen Lippenstift in ihre Handtasche, ein Geschenk, "Bois de Rose" von Dior, ein Ton in zartem Rosé, eine ihrer Lieblingsfarben. Sie macht noch schnell das Fenster im Wohnzimmer zu. Besser, sie legt sich ein Tuch um, sagt sie und öffnet eine Schublade der Holzkommode im Flur. Die ist randvoll mit bunten Seidentüchern, Motive mit grünen und blauen Pferden, mit Fabelwesen und Karos. Jedes in einer leuchtenden Farbe. Sie wählt eines mit blauen Rosen, faltet es und legt es sich geübt um wie ein kleines Cape. Ihr Sinn fürs Ästhetische, er ist nicht zu übersehen. "Fertig", sagt sie und geht aus der Tür. Der Fahrer hilft ihr beim Einsteigen. Er heißt Mohammed, man dürfe ihn auch Moe nennen. Er sagt zu Margot Friedländer: "Ich kenne Sie aus dem Fernsehen!" Und: "Wollen Sie sich nicht anschnallen?" Margot Friedländer lehnt dankend ab. Es geht Richtung Süden und in die Vergangenheit, über den Kurfürstendamm und vorbei an Kirschbäumen, die langsam zu blühen beginnen. Sie schaut aus dem Fenster und schweigt. Jetzt ziehen die Häuserfronten der Uhlandstraße an ihr vorbei. "Da", sagt Margot Friedländer und zeigt aus dem Fenster. Wir fahren vorbei an einem Solarium und einer Postbank, wir sind ganz in der Nähe der Zweizimmerwohnung, in der sie mit ihrer Mutter und ihrem Bruder lebte. Und dann erzählt sie: Am Morgen des 10. November 1938 ging sie wie immer zur Arbeit in den jüdischen Salon "Rosa Lang-Nathanson", wo sie seit einem Jahr eine Ausbildung zur Schneiderin machte. In der Uhlandstraße sah sie die in der Reichspogromnacht zerstörten jüdischen Geschäfte. Überall Scherben, die Geschäfte mit Judensternen beschmiert, am Himmel der Rauch der brennenden Synagogen. Der Salon, in dem sie arbeitete, blieb nach dieser Nacht für immer geschlossen, erinnert sie sich. Und trotzdem sagt sie, Berlin ist ihre Heimat. An diesem Tag hängt eine Silberkette mit einem Amulett über ihrer Bluse. Vorne und hinten sind Fotos eingearbeitet. "Das ist die Mutti", erklärt sie und hält das winzige Gesicht von Auguste Bendheim in den Händen. Denkt sie oft an ihre Mutter? Beim nächsten Mal, sagt Margot Friedländer, wollen wir über Auguste Bendheim sprechen.

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